Gesehenes – Vorhergesehenes – Unvorhergesehenes
Ich finde, es gibt ein paar, die gute Arbeit machen, manche mit Migrationshintergrund, manche ohne, aber es sind leider wenige und die haben aus verschiedenen persönlichen und strukturellen Gründen – Geld, Wille, Interesse und Rassismus von Redaktionen, Verlagen, Werbekundschaft und LeserInnen spielen auf jeden Fall eine Rolle – immer weniger Zeit, gute Arbeit zu machen.
Ich denke gerne im Austausch mit anderen nach, und Bewegung tut mir dabei auch meistens gut. Die Reportage interessiert mich daher nicht nur als Darstellungsweise, sondern auch als Arbeitsform. Es mag stur klingen, aber auch wenn die Reportage – die Reportage über Migration – selbst Thema ist und Gegenstand von Reflexion werden soll, würde ich das lieber als Reportage umsetzen. Ich werde versuchen, hier zu erklären, warum.
Gesehenes
Als Darstellungsweise mag ich die Reportage, weil sie mit konkreten Personen, Orten und Situationen erzählt. Das macht sie für einige Menschen leichter nachvollziehbar. Mich macht sie auch vorsichtiger, eine Sprache zu verwenden, mit der ich andere einschüchtere oder mit der ich mich selbst darüber hinwegtäuschen kann, dass ich gar nicht so genau weiß, was ich meine. Weil Reportagen anschaulich sind, haben sie das Potenzial, stereotype Bilder zu ersetzen. Der Journalist Jose Antonio Vargas hat diesen Sommer in der New York Times den Artikel „My Life as an Undocumented Immigrant“ veröffentlicht. Vargas lebt seit er zwölf ist in den USA. Er beschreibt darin, wie er als Teenager den Führerschein beantragt und ihm die Beamtin seine Dokumente zurückschiebt und zuflüstert: „Die sind Fake.“ Er beschreibt, wie er als Journalist versucht, sich in renommierten Redaktionen zu beweisen, aber auch nie zu gut zu sein, um nicht aufzufallen; wie er es über die Jahre peinlichst vermeidet, über Migration zu berichten. Und er beschreibt, wie er im Jahr 2008 erfährt, dass ein Artikel, an dem er mitgearbeitet hat, den Pulitzer Preis gewinnt. Wie am Tag darauf bei ihm in der Redaktion das Telefon klingelt und seine Großmutter ihn als erstes fragt, was passieren wird, wenn die Leute es rausfinden. Wie er zu den Toiletten im vierten Stock läuft und weint.
Das sind einzelne Momente an einzelnen Orten im Leben eines einzelnen Menschen. Sie entsprechen weder der Mehrheitserfahrung illegalisierter MigrantInnen noch der Mehrheitserfahrung von JournalistInnen mit Migrationshintergrund. Letztere sind zumindest in deutschen und österreichischen Mainstream-Redaktionen noch lange nicht angemessen gesellschaftlich repräsentiert. (Ein großes Danke, dass es auch engagierte Magazine von MigrantInnen gibt!) Diese Momente erzählen aber mehr als die Bilder von Männern in Hemden, die sich in einem Großraumbüro jubelnd in die Arme fallen, und sie führen mich zu anderen Orten als die eingeschränkten Vorstellungen von illegalisierter Migration.
Genügend Reportagen produzieren genau diese Bilder und reproduzieren sie. Bestimmte Repräsentationen, bestimmte Redaktionen ganz zu verweigern, ist eine Strategie. Vielleicht gibt es auch noch andere.
Vorhergesehenes
Wie stark diese Bilder sind, merke ich schon beim Thema „Reportage über Migration“. Ich habe selbst schon ein paar Artikel geschrieben, die sich unter Migration einordnen lassen. Als ich gefragt wurde, über „Reportage über Migration“ zu schreiben, hatte ich trotzdem erst mal „Reportage über MigrantInnen“ im Kopf. Ich weiß nicht, ob das ganz das Bild von Flüchtenden im Mittelmeer oder von der Frau mit Kopftuch war, das ist schon wieder verschwommen. Aber „Reportage über MigrantInnen“ dachte ich definitiv. Und ich dachte zum Beispiel nicht an ein kanadisch-österreichisches Paar in Singapur, an den spanischen Künstler, der in Deutschland viel macht und unter anderem putzen geht, an eine chinesische U.N.-Mitarbeiterin in Paris, an meine Schwester, die im britischen Gesundheitssystem arbeitet oder an mich in Berlin. Keine Angst, ich beginne hier jetzt nicht meine große Berlin-Story. Ich möchte nur sagen: Es ist gut, Bilder zu analysieren und zu dekonstruieren. Ich glaube, es geht auch, indem man aktiv nach anderen Bildern – Menschen, Orten, Situationen – zu suchen beginnt.
Dann kann man für eine „Reportage über Migration“ zum Beispiel auch auf PolizistInnen, MitarbeiterInnen am Sozialamt, LehrerInnen, NachbarInnen, TherapeutInnen, ArbeitgeberInnen oder (Nicht-)WählerInnen kommen. Man kann darauf kommen, man kann ihnen und anderen, die mir jetzt nicht einfallen, bei einer Reportage aber auch einfach begegnen. Ich kann dafür zwischen Bulgarien und der Türkei (EU-Außengrenze!) spazieren gehen, zwischen Brastislava und Wien pendeln oder mich in die Berliner U8 (Hermannstraße-Wittenau) setzen. Dabei kann eine Einzelperson, eine Gruppe oder ein Netzwerk eine Rolle spielen. Vielleicht geht es aber auch um ein Gebäude, eine Branche, eine Technologie. Die Reportage kann von Gesundheit, Gewalt, Steuern, Liebe oder Demenz erzählen. In all diese Lebensbereiche spielt zum Beispiel Migrationsgesetzgebung rein. An all diesen Orten wird zum Beispiel Rassismus verhandelt. Es ist wichtig, dass Leute in all diesen Konstellationen in ihren eigenen Worten zu Wort kommen und sich selbst zu Wort melden. Ich glaube, dass es nicht prinzipiell schadet, wenn Leute sich zum Beruf machen, davon zu berichten. Vorausgesetzt, dass sie sich damit auch Arbeit machen.
Ich finde, es gibt ein paar, die gute Arbeit machen,(1) manche mit Migrationshintergrund, manche ohne, aber es sind leider wenige und die haben aus verschiedenen persönlichen und strukturellen Gründen – Geld, Wille, Interesse und Rassismus von Redaktionen, Verlagen, Werbekundschaft und LeserInnen spielen auf jeden Fall eine Rolle – immer weniger Zeit, gute Arbeit zu machen. „Arbeit machen“ kann im Fall der Reportage heißen, viel herumzulaufen, lange an einem Ort auszuharren oder immer wieder zu kommen, viele Leute zu fragen oder einer Person lange zuzuhören. „Arbeit machen“ heißt recherchieren, und das heißt, einiges mehr zu arbeiten, als man später herzeigen kann, vieles in den Papierkorb zu schmeißen, weil es Blödsinn ist. Sich Arbeit machen heißt auch, wie die Journalistin Carolin Emcke sagt, den Zweifel, mit dem JournalistInnen anderen Menschen begegnen, auch mal und immer wieder konstruktiv an sich selbst anzuwenden. Zu überlegen, wer man ist (Geschlecht, Alter, Sprache, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, Erdteil, Einkommen etc.) und mit welchen vermeintlichen Sicherheiten, mit welchen Ängsten man durch die Welt geht. Was fällt mir schwer zu verstehen? Und mit dem Wissen, darum die Arbeit zu tun. Mir persönlich fällt das gar nicht so leicht, aber man kann es immer wieder versuchen. Das Praktische an der Reportage ist, dass sie, wenn sie sich einmal traut, damit arbeiten kann – und dass sie, wenn sie will, diesen Prozess ausdrücken und vermitteln kann.
Unvorhergesehenes
Reportage kann noch etwas Anderes, nämlich grundsätzlich mit Unvorhergesehenem umgehen; bzw. könnte sie das. Gerade bei Reportagen über Migration tut bzw. täte das gut.
Ein Beispiel: Diesen Sommer ging die Journalistin und Autorin Güner Balci für das ZDF-Magazin aspekte mit Thilo Sarrazin durch Kreuzberg spazieren. Vom Wochenmarkt am Maybachufer aus sollte es über das Restaurant Hasir in der Adalbertstraße zur Alevitischen Gemeinde in der Waldemarstraße gehen. „Es sollte ein Spaziergang werden, eine lockere Begegnung, fast ein Jahr nach Erscheinen seines Bestsellers ,Deutschland schafft sich ab‘“, schrieb Balci später in einem Artikel: „Diesmal würde es nicht das Feuilleton sein, das im Namen der Betroffenen in die Tasten haut – die Migranten als Opfer, Sarrazin als Täter, eine einfache Welt mit simplen Regeln, ohne Platz für Zwischentöne. Diesmal sollten die Empörten selbst zu Wort kommen, ohne intellektuellen Vorbau, ohne selbstgefällige Verbandsvertreter, ohne politische Schwarz-Weiß-Maler und vor allem ohne großes Aufsehen, einfach so, ganz selbstverständlich.“
Schon am Wochenmarkt sorgten Sarrazin und das Filmteam schnell für Aufmerksamkeit. Türkische Journalisten kommen dazu. Passanten melden sich zu Wort. So sieht man es in dem zehnminütigen Beitrag Darf man das? Mit Thilo Sarrazin in Kreuzberg. Vor dem Restaurant beginnen ein junger Mann und eine junge Frau, den Dreh mit Protestrufen zu begleiten. Die junge Frau, die im Beitrag namenlos bleibt, kommt kurz zu Wort, dann wird der Dreh abgebrochen. Bei der nächsten Station, vor dem Vereinssitz der Alevitischen Gemeinde, sieht man schon eine größere Protestgruppe versammelt. Ahmet Taner, der Sprecher der Gemeinde, verliest eine Stellungnahme, warum man sich an dem Dreh nicht beteiligen wolle. Unter Rufen steigen Sarrazin und Balci in ein Auto und fahren ab.
In den Tagen danach, noch vor der Ausstrahlung des Beitrags, wird der Dreh zum Medienthema. Sarrazin schreibt einen Artikel, er wäre aus Kreuzberg verjagt worden, und stützt damit seine rassistischen Thesen. Güner Balci schreibt einen Artikel und skandalisiert den Protest. Auch die junge namenlose Frau aus dem Beitrag, Beri Tunç, meldet sich in einem offenen Brief zu Wort, den sie mit „Sevgili Güner-Abla“ beginnt. „Wie also soll deiner Meinung nach dieser Dialog aussehen?“, schreibt sie an Balci. „Indem wir uns beugen, ihm das Recht auf Sprechen eingestehen, uns selbst als klagende Opfer inszenieren? Allem Anschein nach habt ihr ernsthaft erwartet, dass wir unsere andere Wange hinhalten würden. Wir haben uns stattdessen entschieden, unsere Stimme zu erheben. Unserer Wut über die ständigen Schuldzuweisungen und Diffamierungen seitens Sarrazin freien Lauf zu lassen, uns über ihn zu empören und uns zur Wehr zu setzen.“
An Balcis Vorgehen gibt es mehrere Punkte zu diskutieren. Das beginnt bei der Frage, ob das ganze Setting sinnvoll war, wenn es darum gehen soll, dass KreuzbergerInnen in ihrem Alltag Sarrazins Thesen diskutieren, wenn es dabei mehr um die KreuzbergerInnen als um Sarrazins Blick auf sie gehen soll. Wenn es Balci darum ging, warum hat sie sich auf diese Szene vor dem Restaurant in der Adalbertstraße nicht weiter eingelassen? Warum hat sie Beri Tunç nicht länger zu Wort kommen lassen, warum hat sie dem Wortwechsel zwischen Sarrazin und Tunç nicht mehr Raum gegeben? Wenn der Protest gegen den Dreh für das Team tatsächlich so unvorhergesehen kam – unvorhersehbar war er sicherlich nicht –, wäre es auch möglich gewesen, vom Drehplan abzuweichen, die dramaturgische Idee, die man hatte, aufzugeben und sich auf das Geschehen vor Ort zu konzentrieren. Das wäre vielleicht eine gute Reportage geworden.
Traurige Pointe: Wegen dieser zehn Minuten, die so wenig die KreuzbergerInnen erzählen lassen, ist eine einstündige Dokumentation über Sarrazin geplatzt, für die Balci im Lauf eines Jahres Sarrazin begleitet, befragt und beobachtet hat und für die sie laut Berichten einiges Unvorhergesehenes gefunden hat. Ich fände es nicht schlecht, wenn es eine Reportage gäbe, in der Güner Balci Thilo Sarrazin zu seinem Sohn befragt, der Hartz IV empfängt. Und ich hätte für meine Bilder im Kopf gerne mehr von Beri Tunç in der Adalbertstraße gesehen.
Reportage ist meiner Meinung nach gut, wenn sie auch mit dem Unvorhergesehenen umgehen kann, ohne es als Fehler zu kaschieren oder als Problem zu skandalisieren. Reportage ist spannend, weil sie vom Prinzip her ihre Ideen, Thesen und Pläne strukturell auch dieser Chance aussetzt, daneben zu gehen; überrascht, überrumpelt zu werden, etwas „Anderes“ zu bekommen. Das finde ich produktiv, gerade bei einer Reportage über Migration (siehe oben).
Jetzt aber endlich zur eigenen Arbeit. Ich denke, dass eine Reflexion über „Reportage über Migration“ mehr könnte, wenn ich dafür nicht alleine des Nachts vorm Computer säße. Ich hätte da ein paar Ideen, zum Beispiel die nächstliegende: zwischen Wochenmarkt, Adalbertstraße und Waldemarstraße unterwegs zu sein, um diesen „Darf man das?“-Dreh, sein Davor und Danach, was zu sehen und zu hören war und was nicht, zu besprechen; die Leute zu treffen, die im Beitrag zu Wort gekommen sind, und jene, die nur zu sehen waren; und vielleicht ganz andere. Das ist eine relativ simple Idee. Vielleicht ist sie simpel gedacht, was dabei raus kommt, kann ich jetzt noch nicht sagen. Aber genau das gefällt mir daran. Ich denke, es bräuchte nicht mal gar so viel Zeit. In einer idealen Welt hätte ich Zeit dazu. Die Welt ist nicht ideal, und das ist ein Problem. Das sagt vielleicht auch einiges über die Reportage.
Katharina Ludwig arbeitet als freie Journalistin/Autorin in Berlin.
Fußnote
(1) Anderer Meinung? Zu diesem Punkt später mehr.
Quellen
Vargas, Jose Antonio (2011): „My Life as Undocumented Immigrant”, New York Times, 22. Juni 2011
Balci, Güner (2011): „Darf man das? Mit Thilo Sarrazin in Kreuzberg“, ZDF aspekte, 22.7.2011
Balci, Güner (2011): „Sarrazin ist in Kreuzberg nicht willkommen“, Welt, 15.7.2011
Emcke, Carolin (2011): Vortrag beim Reporter-Forum, 10.6.2011, Die Selbstreflexion in der Reportage
Schmitz, Thorsten (2011): „Kampfplatz Kreuzberg“, Süddeutsche Zeitung, 1.8.2011
Tunç, Beri (2011): Sevgili Güner-Abla, Brief an Güner Balci, migazin, 22.7.2011