Die Finanzkrise verstehen

Selbst die österreichischen Banken, die vor Monaten noch davon ausgingen, aufgrund ihres konservativen Geschäftsmodells von der Krise verschont zu bleiben, müssen nun mit dem Wirtschaftseinbruch in Osteuropa fertig werden, wo sie stark im Kreditgeschäft engagiert sind.

Seit Mitte 2007 hält die Finanzkrise die Welt in Atem. Was zuerst wie ein reines US-Problem aussah, zeigt seit Herbst 2008 auch zunehmend Auswirkungen in Europa. Selbst die österreichischen Banken, die vor Monaten noch davon ausgingen, aufgrund ihres konservativen Geschäftsmodells von der Krise verschont zu bleiben, müssen nun mit dem Wirtschaftseinbruch in Osteuropa fertig werden, wo sie stark im Kreditgeschäft engagiert sind.

Der Finanzsektor hat sich gründlich verspekuliert. Jahrelang wurden überoptimistisch Kredite vergeben: Finanzinstitute vor allem in den USA sowie in Irland, Spanien und Großbritannien waren außerordentlich freigiebig mit Krediten an HausbesitzerInnen in spe – in dem Glauben, der Immobilienboom würde noch lange anhalten. Und weil sie zunehmend dazu übergingen, die Kreditforderungen weiterzuverkaufen, also das Risiko eines Zahlungsausfalls immer weniger selbst tragen mussten. Im Finanzsektor wurde ganz viel Einfallsreichtum darauf verwendet, Kreditforderungen und das damit verbundene Risiko in verschiedensten Verpackungen aufzubereiten und weiterzuverkaufen. Damit wurden so komplizierte und intransparente Transaktionsketten geschaffen, dass letztlich niemand mehr überblicken konnte, wo jetzt welche Risiken lagen. So landeten Wertpapiere, deren Wert an die Rückzahlung von Krediten einfacher Neo-HausbesitzerInnen in den USA gebunden war, in den Büchern von Banken in Europa und anderswo. Also so weit entfernt vom Ort des Geschehens, dass die Mehrzahl der Beteiligten wohl nicht so recht wusste, was sie da gekauft hatten. Das wurde nicht besonders beachtet, solange alles gut lief. Doch als die Stimmung kippte, der Glaube an ein Ende des Immobilienpreisanstiegs sich ausbreitete und sich die Zahlungsausfälle bei Hypotheken zu häufen begannen, kippte die Stimmung. Nun begann der Überoptimismus im Finanzsektor in allgemeines Misstrauen umzuschlagen, und keiner traute mehr keinem. Eine solche Stimmung ist Gift in einem Sektor, der auf Vertrauen baut. Banken wollten plötzlich untereinander nichts mehr herborgen, und viele AkteurInnen und Institute, die sich selber hoch verschuldet und das gepumpte Geld in Geschäfte investiert hatten, die jetzt zu floppen begannen, kamen ins Trudeln. Neben dem Immobilienmarkt waren Unternehmensfusionen und private Konsumkredite weitere große Geschäftsbereiche, in denen in den letzten Jahren Kredite en masse aufgelaufen waren und die jetzt in die Problemzone geraten.

Vielfach wird nun nach einer Regulierung des Finanzsektors gerufen. Viele hochriskante Geschäfte und das Überschreiten vernünftiger Verschuldungslimits waren nur möglich, weil Finanzinstitute diese in Sondergesellschaften durchgeführt hatten, um dem Auge der Regulierungsbehörden auszuweichen. Dass letztere davon überhaupt nichts gewusst haben, ist zwar nicht recht vorstellbar, doch nun gibt es Druck, in Zukunft solche Umgehungskonstruktionen zu verbieten. Außerbilanzielle Verbuchung riskanter Geschäfte, unregulierte Hedge Funds und Private Equity Funds könnten einer verstärkten Überwachung unterzogen werden.
Auch auf so manche Finanzinnovationen wird nun ein verstärktes Augenmerk gelegt. Die Praxis des Weiterverkaufs von Kreditforderungen und die Konstruktion von komplizierten und intransparenten Kredit-Derivaten (das sind Geschäfte zweiter Ordnung – Wertpapiere, deren Preisentwicklung von der Preisentwicklung eines anderen Wertpapiers abhängt) soll eingedämmt werden. Zumindest so weit, dass leichtfertige eine Kreditvergabe weniger ermutigt wird und das Institut, das einen Kredit vergibt, auch Anreize hat, die Kreditwürdigkeit des Schuldners bzw. der Schuldnerin zu prüfen.
Ein Gipfeltreffen der 20 größten Volkswirtschaften G-20 hat im November beschlossen, an diesbezüglichen langfristigen Reformen zu arbeiten. Der französische Präsident und EU-Ratsvorsitzende Nikolas Sarkozy hat die Gelegenheit des Interregnums rund um die US-Präsidentenablöse genutzt, um sich und die EU als Vorreiter einer Reregulierung und weltwirtschaftliche Ordnungsmacht zu präsentieren. Nichts Geringeres als eine „Neuordnung des Kapitalismus“ und ein „neues Bretton Woods“ stellte der Präsident für die Konferenz der führenden Wirtschaftsmächte Mitte November in Aussicht. Herausgekommen ist ein bescheidener Plan für ein paar technische Reformen der oben genannten Problemkreise.

Eine radikale Kritik der bestehenden Weltfinanzordnung würde auch nicht so ganz zum Agieren der EU in der Vergangenheit passen. Seit zehn Jahren fährt die EU ein Liberalisierungsprogramm für den Europäischen Finanzmarkt, ohne dass es viel öffentliches Aufsehen erregen würde. Geheimniskrämerei kann man ihr dabei zwar nicht vorwerfen: Jede neue Gesetzesinitiative wird öffentlich zur Konsultation ausgeschrieben. Doch Stellungnahmen kommen fast ausschließlich von den Finanzkonzernen – sie allein haben die notwendige Expertise und entsprechende Ressourcen. Die EU-Regeln für die Finanzindustrie berücksichtigen deswegen viel zu wenig die möglichen Risiken, die von der Finanzwirtschaft für den Rest der Gesellschaft ausgehen. Ähnliches gilt für die neue Instanz zur weltweiten Finanzmarktreform: Die G-20 weisen zwar eine breitere Teilnehmerschaft auf als der exklusive Club der G-7, aber die damit propagierte Demokratisierung bezieht sich nur auf die Ausweitung des Kreises an Regierungen. Eine Pluralität der Stimmen ist dadurch noch nicht gewährleistet. Insbesondere was Expertise und Einfluss auf dem Gebiet der Finanzmarktregulierung betrifft, ist die Finanzwirtschaft allen anderen gesellschaftlichen Gruppen haushoch überlegen. Ohne Stärkung gesamtwirtschaftlicher, zivilgesellschaftlicher und gewerkschaftlicher Interessen in Reformdebatten wird sich an der Ausrichtung von Finanzmarktregulierung nur wenig verändern.

Kurzfristig wurde mit Bankenhilfspaketen aus öffentlichen Geldern in den USA und Westeuropa versucht, die unmittelbare Krisendynamik aufzuhalten. Dabei wurden krisengeschüttelte Institute zum Teil verstaatlicht, zum Teil versucht der Staat durch Garantien für Kredite oder direkte Kapitalzufuhr die Banken zu stabilisieren. Am monatelangen Gezerre darüber, zu welchen Bedingungen die Banken Unterstützung vom Staat erhalten sollen, wurde deutlich, dass von einem Abschied von etablierten Denkweisen trotz anfänglicher Reden vom angeblichen Paradigmenwechsel kaum gesprochen werden kann. Keine Spur von neuer Bescheidenheit auf Seiten des Bankensektors.

Dass einzelne Banken nun verstaatlicht werden müssen, um ihre wichtige volkswirtschaftliche Funktion (Finanzierung anderer Wirtschaftszweige und Haushalte) zu erhalten, ruft in Erinnerung, dass Banken eine wichtige öffentliche Funktion haben, die in einem Spannungsverhältnis zu Profitüberlegungen stehen. Doch neue Auflagen zur Wahrung öffentlicher Interessen versuchen die Banken mit aller Macht abzuwehren.

Bei aller Notwendigkeit, die Regulierung des Finanzsektors zu überdenken: Die aktuelle Krise ist nicht nur ein Versagen des Finanzsektors, sondern auch Ergebnis der zunehmenden Verteilungsschieflage der letzten Jahre. Diese ist eine wesentliche Ursache für den Aufbau der Finanzmarktblase, die im Jahr 2007 schließlich geplatzt ist: Die Ansammlung gigantischer Vermögen auf der Suche nach lukrativen Veranlagungsmöglichkeiten hat dazu geführt, dass die Finanzinstitute mehr Geld in den Händen hatten, als durch lukrative Investitionsprojekte absorbiert werden konnte, weshalb schließlich auch unsolide Kredite vergeben wurden. Zum Beispiel Kredite an arme Leute, um Häuser auf Kredit zu kaufen, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnten – die viel zitierten „subprime“-HypothekarkreditnehmerInnen. Statt unleistbare Kredite wären für diese Leute staatliche Unterstützungsmaßnahmen oder sozialer Wohnbau nötig gewesen – finanziert aus Einkommens- und Vermögenssteuern. Die Weigerung, Teile des Einkommens und Vermögens über Löhne oder den Steuertopf Einkommensschwachen zugute kommen zu lassen und stattdessen zu versuchen, mit den Armen (Kredit-)Geschäfte zu machen, ist schief gegangen. Ähnliches gilt für die jahrelang gepflegte Praxis der US-Mittelschicht, ihr Konsumniveau mit Krediten aufrechtzuerhalten, wo die Einkommen aufgrund seit Jahren stagnierender Löhne nicht reichten.

Paradoxerweise hat die Krise fürs erste zu einer Abmilderung der exzessiven Vermögensungleichheiten geführt. Denn die in den letzten Jahren gewachsenen Vermögen sind durch die Krise rasant dezimiert worden. Auch wenn auf den ersten Blick verblüffend („Geld kann doch nicht einfach verschwinden“), wird zu Recht von „Kapitalvernichtung“ gesprochen. Denn der Vermögenszuwachs in privaten Händen in den Jahren zuvor war ein Stückweit fiktiv, weil durch vorübergehende Preissteigerungen bei Immobilien, Aktien und einer Reihe von anderen Wertpapieren bedingt. Wenn etwa Aktien der Firma X immer teurer gehandelt werden, steigt – auf dem Papier! – das Vermögen aller Personen, die Aktien der Firma X besitzen. Jetzt, wo die Preise dieser Aktien, sowie Immobilien und sonstiger Wertpapiere in den Keller fallen, sinken alle diese fiktiven Vermögen rapide ab. Das (Buch-)Geld ist also weg – zumindest solange die Vermögenspreise niedrig bleiben.

Auch die zunehmende Privatisierung sozialer Risiken, insbesondere der Pensionsvorsorge, trug zur Krise bei. Der Finanzsektor hat sich in den letzten Jahren als Risiko-Verwaltungsapparat präsentiert, der seine Sache besser und lukrativer macht als der Staat: Von der Unternehmensführung über die Orchestrierung von Fusionen bis zur privaten Pensionsvorsorge konnte der Finanzsektor immer neue Aufgaben an sich ziehen. Immer mehr Bereiche des Alltags werden mit dem Finanzwesen verknüpft.

Die Privatisierung der Pensionsvorsorge trug dazu bei, das Anlagekapital von Pensionsfonds und anderen Pensionsvorsorge-Anbietern (z.B. Lebensversicherungen) zu erhöhen. Das für kapitalgedeckte Pensionsvorsorge aufgebaute Vermögen betrug im Jahr 2006 weltweit insgesamt 24,6 Bio. US-Dollar, also ein Ausmaß in Höhe von rund 37% des Bruttoinlandsprodukts der ganzen Welt. Die Krise hat zum wiederholten Male gezeigt, dass der Finanzsektor mit seiner Tendenz zu Volatilität zur Absicherung sozialer Risiken wenig geeignet ist. Möglicherweise produziert er sogar neue Risiken, statt diese besser zu verteilen und daher zu entschärfen. Die öffentliche Hand darf deshalb nicht weiter versuchen, die Aufgabe der Verteilung zwischen den Generationen auf den Finanzsektor abzuschieben. In den letzten Jahren wurde mit Steuergeldern eine private Pensionsvorsorge gefördert, die sich sowieso nur Besserverdienende leisten können, und die sich zweitens als extrem unsicher erwiesen hat. Die politische Verantwortung zur Verteilung des Kuchens zwischen Alt und Jung muss wieder wahrgenommen werden, statt auf Finanzmärkte abgeschoben zu werden, die damit überfordert sind.

Literatur
BEIGEWUM Stellungnahme und Forderungen zur aktuellen Finanzkrise
Heft 4/2008 der Zeitschrift „Kurswechsel“ zum Thema „Der goldene Osten: das Ende einer Illusion“ über die Folgen der Ostexpansion der österreichischen Wirtschaft in Zeiten der Finanzkrise Kurswechsel

Der Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM) ist eine Vereinigung kritischer SozialwissenschafterInnen.